Eröffnungsrede zur Ausstellung von Corinna Weiss am 20. Oktober 2017
in der Kulturwerkstatt Hamburg
„Seite an Seite“ – mit diesem symbolischen Imago wurden Sie zur heutigen Vernissage eingeladen. Hand in Hand präsentieren sich vier Frauen unterschiedlichster ethnischer Zugehörigkeiten, die selbstbewusst den Besucher in ihrer Welt begrüßen. So individuell und eigenständig die Köpfe der Frauen sind, im Bereich des Körpers verschmelzen sie zunehmend. Sie nehmen sich an die Hand und verfließen mit ihren roten Gewändern zu einer einzigen Fläche. Die Figuren scheinen in einer einheitlichen schützenden Hülle zu stecken, die in ihrer Signalfarbe das Symbol einer Gruppenzusammengehörigkeit vermittelt. Die Blicke sind konzentriert auf die Betrachter gerichtet, jederzeit bereit für den kommunikativen Austausch. Was für eine passende Botschaft unserer Zeit – trotz uniformer Einbettung in unserer globalen Welt – „Einfach Anders“-zu sein!
Die Botschaft des „Einfach Anders“ beschreibt auch den Lebensweg der Künstlerin. Vor über 12 Jahren entschloss sich Corinna Weiss sich vollständig ihrer Berufung als Künstlerin zu widmen, um eine mehrjährige, breit angelegte internationale künstlerische Ausbildung anzutreten. Das Bild „Wanderstern“ erscheint wie ein Symbolbild für diese Entscheidung. Auf einem Fabelwesen sitzen zwei Figuren und lassen sich davontragen. Wohin die Wanderung geht ist nicht gewiss, aber die eine Figur hält die andere schützend im Arm und bestärkt das Mädchen in seinem Aufbruch. Auch Corinna Weiss hörte auf ihre innere Stimme, bestieg ihr Totemtier und machte sich unter dem Schutz kompetenter Professoren auf die Wanderschaft in ihre Künstlerexistenz. 2015 schloss sie ihr Kunststudium an der Kunstakademie in Salzburg in der Meisterklasse bei Professor Hannes Baier erfolgreich ab. Seitdem bestimmt eine rege Ausstellungstätigkeit und die beständige Weiterentwicklung ihrer individuellen Bildsprache und malerischen Poesie ihr Anders-sein.
Die poetischen Bild-Geschichten in den Werken von Corinna Weiss erwachen während des Entstehungsprozesses. Es gibt für die Künstlerin keine Skizzen zum Bild, sondern das Sujet entwickelt sich nach und nach. Für die Künstlerin transformieren sich die gemalten Figuren erst im Arbeitsprozess zu „ihren Mädchen“. Aus den Trägerinnen von Erinnerungen, Erfahrungen und Emotionen erwächst eine individuelle Frauengestalt und mit ihrer Entstehung kristallisiert sich auch ein Bildtitel heraus. Dazu braucht es Zeit, weshalb Corinna Weiss oft monatelangen gleichzeitig an mehreren Bildern arbeitet. Diese können miteinander konkurrieren, sich gegenseitig inspirieren und werden manchmal gar zu Zwillings-Bildern wie „First Boy“ und „Heimatliebe“. Die Bildserien teilen sich oft den gleichen Hintergrund, das gleiche Format wie die Porträtreihe oder das Thema wie die „Herzerinnen. Die Protagonisten werden von animalischen Wesen begleitet, die Anteile ihres Seins charakterisiert. Bei First Boy ist es sein kämpferisches männliches Pendant, beim Mädchen die innige Heimat-Liebe.
Die Verbindung von menschlichen und animalischen Anteilen kennt man schon seit prähistorischen Zeiten. Da zeigen sich in der Höhlenmalerei Zwitterwesen aus Mensch und Tier, die von Jagd und Zauber, Lebenswelt und Magie berichten. Es sind die Tiere in Corinna Weiss‘ Werken, die uns in eine Zauberweltversetzen. Würden sie die Mädchen nicht begleiten, dann wären es Darstellungen von weiblichen Körpern in einem diffusen Farbraum. So aber bringt jedes Totem-Tier erzählerische Aspekte in das Bild und gehen Verbindungen mit den Mädchen ein – beschützen sie und werden beschützt.
Dieser Schutzaspekt ist das Wiedererkennungsmerkmal in allen Werkserien. Manchmal werden die Symbolwesen von den Mädchen schützend im Arm gehalten, in anderen Bilder schützen die Fabelwesen die menschliche Figur, entweder durch ihre beeindruckende Größe oder indem sie sich wie eine zweite Haut um die Mädchen legen. Wenn Sie sich die Bild-Serie der Köpfe ansehen, werden Sie feststellen, dass die Köpfe der Mädchen immer bedeckt sind. Mit aufgesetzten Tieren, umhüllt mit Tüchern oder gar be-Hüte-t. Der Kopf ist in vielen Kulturen der Sitz der Seele, der Person, der Individualität und erhält dadurch, auch im Werk der Künstlerin Corinna Weiss, eine besondere Bedeutung. Die Tiere verkörpern diese Bedeutungen, sind symbolische Verweise und im wörtlichen Sinne Charakterisierungen.
Vertraute Charakterisierungen erscheinen in Titeln wie „Schwarzes Schaf“ und „Henne und Ei“. Die Redewendungen schicken die Assoziationen sogleich in bekannte Bahnen. Wenn man aber genauer hinsieht, dann gibt es gar kein schwarzes Schaf, sondern nur einen schwarzen Vogel. Aus dem auf der schützenden Hand sitzenden Wesen, wird in unseren Köpfen durch den Titel sogleich die Konnotation eines „Unglücksvogel“ angeheftet. Aber ist er das? Auch die Begriffe „Henne und Ei“ lassen die Gedanken „was war zuerst, wo ist Ursprung und Ende?“ aufleuchten. Aber ist die auf dem Kopf sitzende Henne Ursache „brütender Gedanken“? Oder schützt sie das Organ neuer Ideen? Die Künstlerin spielt mit unseren tradierten Sehgewohnheiten. Die Mädchen befinden sich bewusst in einem erzählerischen Umfeld, erzeugen zusammen mit den Tieren Assoziationen von Bildern, Wörtern, Gerüche und Töne – ja ganzen Geschichten. Aber diese Geschichten müssen vom Betrachter nicht entschlüsselt werden. Vielmehr ist es die Intension der Künstlerin, dass sie bei jedem Besucher eigene Assoziationen und Geschichten erzeugen. Farben, Tiere, Blicke regen alle Sinne an und lösen damit beim Betrachter ganz persönliche Emotionen aus. Die Botschaft hinter dem Sichtbaren ist für jeden ganz individuell!
Der Botschafts-Gedanke erreicht im Bild der Arche Noah geradezu einen sakralen Charakter! Nicht nur der Titel stammt aus der Bibel, auch die Anlage als Triptychon ist dem Genre des Altarbildes entnommen. Hatte einst Noah die Tiere gerettet, weiß man hier nicht wer wen rettet! Die menschlichen Figuren die Tiere, die sie schützend in den Armen halten oder das Animalische das Menschliche? Die Arche Noah hat einen Tierkörper und nimmt Mensch und Tier schützend auf den Rücken. Die zentrale Frauengestalt verwurzelt sich mittels ihrer Haube mit den menschlichen und animalischen Aspekten und wird so zur Urmutter. Die Frau auf der rechten Seite hat ein Kind auf dem Arm, das mit seinem Totemtier verwachsen ist. Hier verschmelzen Aspekte der Muttergöttin mit denen der Maria Lactans und machen sie zur Stellvertreterin der Mutterliebe. Auf der linken Seite ist das männliche Element, das schützt und versammelt, aber in seiner androgynen Form auch Männliches wie Weibliches verbindet. Die Arche Noah erscheint als Andachtsbild unserer modernen, verkopften Zeit, dass bewusst machen soll, dass die Einheit von Animalischem wie Humanem, von Kopf und Gefühl geborgen werden muss. Vielleicht gar nicht nur bezogen auf die innere Arche Noah, sondern als Symbol für die Welt! Formulierte doch schon Michail Gorbatschow: “Wir alle sind Passagiere an Bord des Schiffes Erde, und wir dürfen nicht zulassen, daß es zerstört wird. Eine zweite Arche Noah wird es nicht geben.“
von Dr. Karin Dohrmann